Ein Kreuz im Tulbingsgrund
(Kain und Abel)
Wenn Du, lieber Leser der Heimatblätter, mit wenig Geld im Beutel dennoch eine schöne Pfingstwanderung machen willst, so laden wir dich ein, das einsame Tülpingstal im großen Walde von Neuwirtshaus zu besuchen, -auf älteren Landkarten findet sich auch noch die Schreibweise „Tülbings-oder Dölbingsgrund".
Etwa 500 Schritte oberhalb des Garitzer Wasserhäuschens neben dem Staatswaldgrenzstein Nr. 40 steht ein Gedenkstein mit einem Kreuz, dessen Inschrift kaum mehr lesbar ist. Er erinnert an ein schauerliches Wilderer-Drama, wie es sich eh und je in den weiten Wäldern von Neuwirtshaus abgespielt haben mochte.
Nimm Deinen Hut ab, lieber Wanderer, und bete ein stilles Vaterunser. Dann will ich Dir die Geschichte eines feigen und bestialischen Mordes erzählen, wie ich sie in den alten Akten des Forstamtes fand und wie sie hochbetagte Leute aus eigenem Erleben uns berichten.
Im Mai 1887, wenige Tage vor dem Pfingstfeste, erhielt der Waldaufseher Otto Stahl von Singenrain, der zwei Jahre vorher das Opfer eines Überfalles von Wilderern war, einen anonymen Brief mit der Mitteilung, daß im Dölbingsgrund gewildert würde. Er setzte sich mit seinem Kollegen Johann Burkart Schmitt, wohnhaft auf dem Seyfertshofe, in Verbindung und beide verabredeten eine gemeinsame Streife. Ein tragisches Geschick wollte es, daß Stahl im letzten Augenblick absagte und nicht mitging. (Die alten Leute sagen, daß seine Schwiegermutter ihn nicht mitließ). So kam es, daß Johann Burkart Schmitt, ein starker, couragierter junger Mann im vollen Bewustsein der ihm drohenden Gefahr am Pfingstsonntag-Abend allein recherchieren ging und von diesem Dienstgange nicht mehr zurückkehrte Als die Ave-Glocken den Abend einläuteten, lag der pflichtbewußte Beamte in seinem Blute an der Stelle, wo heute dieses Kreuz steht.
Seine Frau Ottilie, Mutter von 3 kleinen Kindern, war sehr beunruhigt über das Ausbleiben ihres Mannes und forderte ihre Angehörigen und einige andere Einwohner von Öhrberg auf, den Dölbingsgrund zu durchstreifen. Aber erst am anderen Vormittag wurde die Leiche gefunden,- die Brust war durch einen nahen Schrotschuß zerfetzt, der Hinterkopf durch einen Fangschuß weggerissen und das Gehirn in grauenvoller Weise überall verspritzt.
Nach den Ermittlungen, die am gleichen Tage der kgl. Revierförster Christian Bräutigam von Untergeiersnest, der Gendarmeriesergeant von Geroda und spätnachmittags die hohe Gerichtskommision von Brückenau anstellten, hat sich das Verbrechen so abgespielt:
Schmitt war, nach alter Gewohnheit seinen Vorderlader im Arm, vorsichtig auf der Grenze zwischen Wald und Wiese herabgepirscht, als ihn aus wohlgetarntem Hinterhalt auf etwa 15 Schritte ein Schrotschuß zu Boden warf. Er war noch nicht völlig tot oder hat gar noch geschrieen, sodaß sein Mörder sich zu diesem wahrhaft bestialischen Fangschuß in den Hinterkopf entschloß. Er schleifte dann die Leiche an der Joppe 15 Schritte weit in das Dickicht hinein, sodaß sie von der Wiese her nicht gesehen werden konnte, legte sie mit den Füßen bergauf und gab dem Kopf, das heißt, dem was davon noch übrig war, einen Stein als Unterlage.
Soweit der Tatbestand. Der Mordverdacht konzentrierte sich sofort auf den als Wilderer längst berüchtigten Maurer Narzissus Karges von Singenrain. Die Gendarmerie fand bei einer sofortigen Hausdurchsuchung in seiner Wohnung blutbespritzte Holzschuhe und Kleider sowie ein frisch abgeschossenes Gewehr. Karges wurde festgenommen und hatte kein Alibi, als dann seine Ehefrau und Kinder im Verhöre zugaben, daß Karges erst um 10 Uhr abends heimgekommen sei und sich ohne etwas zu essen ins Bett gelegt habe, fing der Kopf des als rücksichtslos und brutal bekannten Wilderers an zu wackeln. Karges leugnete jedoch den Mord aufs heftigste. Nach über zwei Monaten schärfster Untersuchungshaft, kurz vor dem Gerichtstermin, bequemte er sich aus Angst um sein Leben zu dem Geständnis, an jenem Abend ebenfalls gewildert zu haben. Er hätte eine Rehgeiß geschossen, deren Decke er unter einer Feldmauer vergraben hätte. Ein Lokaltermin bestätigte diese Angaben, worauf ihn die Staatsanwaltschaft vorläufig wieder in Freiheit setzte. Später erhielt er jedoch wegen dieser und anderer Wildereien zuerst 2 Jahre 3 Monate Gefängnis und dann 2 Jahre Zuchthaus. Das unsaubere Handwerk wurde ihm so verleidet, daß er später doch noch ein ordentlicher Christenmensch wurde und als solcher hochbetagt vor wenigen Jahren starb.
Damals aber mußten die Akten über den Mord in der Waldschlucht Dölbingsgrund als ungeklärt beiseite gelegt werden, wenngleich der Verdacht weiterhin auf Karges lastete. Das Volk in den Rhöndörfern munkelte dies und das; berufene und unberufene Ohren lauerten in den Wirtshäusern jahraus jahrein auf ein unbedachtes Wort. Umsonst, es schien wirklich, als sollte diese schwarze Tat erst am jüngsten Tage ruchbar werden. Gottes Mühlen mahlen wirklich langsam . . .
Die Witwe Ottilie Schmitt verzog nach Waldfenster zu Anverwandten. Ums Jahr 1927 erhielt die Greisin einen versiegelten Einschreibebrief der Staatsanwaltschaft Schweinfurt mit der kurzen Mitteilung, daß ein Mann aus Klosterthulba, dessen Name nicht genannt wurde, bald nach jenem blutigen Drama im Walde nach Amerika ausgewandert war, dort verstorben sei und auf seinem Sterbebette jenen Mord im Dölbingsgrunde eingestanden und zu Protokoll gegeben habe.
Und nun, mein lieber Wanderer, der du jetzt die Geschichte dieses Kreuzes kennst, denk auch einmal an jenen unglücklichen Namenlosen, der wie Kain gehetzt von schwerer Blutschuld, aus seiner Heimat floh, über den halben Erdball weg und den der ewige Gott volle vierzig Jahre lang bei Tag und Nacht gefragt haben mag „Kain, wo ist dein Bruder Abel?" und dann bete ein zweites Vaterunser, ehe du wieder weitergehst! In den gleichen Eichen und Buchen, die damals das schaurige Geheimnis bargen, spielt der Wind und flüstert das Lied von einem braven Manne, der wissend und dennoch unerschrocken in den Tod ging wie seine Pflicht ihm befahl.