7.4.45 - nach 2 Uhr früh
Am späten Nachmittag des 6. April verschwand in aller Stille die Lagerbesatzung und ließ die Gefangenen allein und unbewacht zurück. Auch die letzten Reste der Wehrmacht zogen gegen Abend aus Hammelburg ab und ihnen schlossen sich die Spitzen der Partei und des Volkssturmes sowie eine Anzahl von Einwohnern an, die sich in der Stadt nicht sicher genug fühlten. Die meisten Volkssturmmänner legten ihre Waffen nieder, begaben sich nach Hause und beendigten so für ihre Person den Krieg. In Hammelburg übte nunmehr nur noch 1. Bürgermeister Clement eine beschränkte Befehlsgewalt aus. Was geschehen sollte, wußte niemand.
Die frei gewordenen Gefangenen des Lagers schlugen zunächst dort alles kurz und klein. Sodann begab sich ein Teil in die umgebenden Dörfer um zu plündern, vor allem Lebensmittel. Auch Schloß Saaleck wurde ausgeräumt. Hammelburg blieb zunächst verschont, da ja kein Flußübergang mehr bestand. Einige Bewohner von Schloß Saaleck und vom Felsenkeller retteten sich über die südlich in den Wiesen gelegene, zur Wiesenwässerung bestimmte Sperre über die Saale in die Stadt.
Die Amerikaner hatten gegen 19 Uhr des 6. April das Lager besetzt. Die Stadt Hammelburg hielten sie offenbar für den Stützpunkt einer stärkeren Wehrmachtsabteilung. Deshalb stellten sie jetzt im Halbkreis auf der Lagerhöhe, der Liebenthalerhöhe und, von Untererthal her kommend, auf halber Höhe des Buchberges drei Batterien zur Beschießung der Stadt auf. Diese begannen nach 19 Uhr sich mit etwa 30 Schüssen auf die Stadt einzuschießen. Nun kamen Schreckensstunden für die Einwohner. — Pfarrchronik: „Am Abend geht der Pfarrer zufällig — aber es gibt ja keinen Zufall — ins Krankenhaus (das alte in der v.-Heßstraße) hinüber. Es ist 19.30 Uhr. Er spricht mit dem Arzt, dann lädt ihn die Schwester Oberin ein, den Luftschutzkeller zu besuchen, in dem die Kranken behelfsmäßig untergebracht sind. Kaum sind wir unten, da kracht ein furchtbarer Schlag: feindliche Artillerie beschießt die Stadt. Neun Schüsse, dann Stille. Wir beruhigen uns, denn das war, so glauben wir, das Signal zum Einzug der Amerikaner. Nachbarhäuser sind getroffen. Ein Mann wird eingeliefert, ein Soldat im Urlaub (Kurt Mayerhofer), dem im Vaterhaus ein Sprengstück die Seite aufgerissen hat. Ich kann ihm die Lossprechung und die heilige Ölung geben. Plötzlich dröhnt ein zweiter furchtbarer Stoß: Das Krankenhaus ist getroffen! Die aufgeregten Kranken schreien und jammern. Wir haben zu tun, sie zu beruhigen. Eine Schwester, Heriburga Neidlinger, wird vermißt (sie wurde dann tot aufgefunden), ebenso zwei Belgier, die als Krankenwärter Dienst taten. Plötzlich kommt ein anderer Belgier entsetzt hereingestürzt: „Jean liegt tot im Treppenhaus!" Ich gehe nach oben und kann dem Toten noch bedingungsweise die hl. Ölung geben. Das ganze Treppenhaus ist von Staub und Rauch erfüllt, die Treppe ein einziger Trümmerhaufen. Aber im Zimmer 12 röcheln einige Schwerkranke, die man nicht mehr in den Keller transportieren konnte. Wir steigen über die Trümmer nach oben, brechen mit einem Beil die verklemmte Tür auf, da dröhnt der dritte Feuerschlag über uns. Auf dem Lagerberg scheint das Mündungsfeuer der Geschütze aufzublitzen, die Geschosse heulen über uns hinweg und fallen in der Nachbarschaft nieder. Ich gehe in das Zimmer 12 zu den Sterbenskranken, gebe ihnen die Lossprechung und steige dann wieder zu den anderen Kranken in den Keller, die immer aufgeregter werden. Wir beten laut zusammen den glorreichen Rosenkranz — es ist trotz allem Osterwoche, wenn man es auch fast vergessen hat —. Allmählich beruhigen sie sich. Und in all dem Lärm und Durcheinander wird im Nebenkeller ein kleines Kind geboren. Die Mutter wünscht, daß es auch gleich getauft werde — wer weiß, ob wir morgen noch leben? Wird die Beschießung die ganze Nacht anhalten? — Und so nimmt der ewige Gott dieses neugeborene Menschenkind zu seinem Kind an, im dunklen Keller, während nur eine Kerze brennt. Neues Leben trotz Tod und Vernichtung!"
Frau Hempfling erzählte: „Der Keller der Brauerei geht in den Saalecker Berg hinein, war deshalb sicher. Die Bewohner des Anwesens hatten in den letzten Kriegstagen dorthin ihre besten Möbel, auch die Betten zum Schlafen sowie ihren Hausrat geflüchtet. Die Nacht zum 6. April war dort beängstigend. Jeder Abschuß der Liebenthaler Batterie bewirkte eine Erschütterung, sodaß die aufgehängte Petroleumlampe schwankte und Mörtel und Steine abfielen. Die Mauern zitterten. Man glaubte, das ganze Anwesen liege in Trümmern."
Im ganzen gaben die amerikanischen Batterien ungefähr 30 Schüsse ab, die auf dem Marktplatz (Einhornapotheke), in der v.-Heßstraße, im Krankenhaus, im Rathaus und auch im Friedhof erhebliche Verwüstungen anrichteten. Gegen 21 Uhr stellten die Geschütze zunächst ihr Feuer ein. Der Granattreffer im Krankenhaus, von dem die Pfarrchronik spricht, forderte insgesamt 4 Todesopfer: die anfänglich vermißte Schwester Heriburga Neidlinger, die später tot unter den Trümmern gefunden wurde, zwei im Sanitätsdienst eingesetzte belgische Gefangene und den verwundeten Soldaten Mayerhofer. Arzt war keiner anwesend.
Im Luftschutzkeller des Rathauses, wo sich eine große Zahl von Einwohnern und Gefangenen zusammengedrängt hatte (ein Berichterstatter spricht von etwa 1000), hielt sich meist auch 1. Bürgermeister Clement, ebenso 2. Bürgermeister Keßler, zeitweise auch Stadtpfarrer Dr. Mahr auf. Man wußte, daß die nächsten erreichbaren Amerikaner auf der Höhe der Untererthaler Straße standen. Allgemein wuchs die Überzeugung, man müsse zur Abwehr des Untergangs der Stadt eine Abordnung dorthin schicken. Clement, der die nominelle Befehlsgewalt über die Stadt hatte, war unschlüssig, er fürchtete wohl — und nicht mit Unrecht — die Verantwortung bei etwaiger Rückkehr der Wehrmacht. So verging der erste Teil der Nacht in drückender Ungewißheit. — Pfarrchronik: „Um Mitternacht kommt ein Bürger zu uns in den Keller des Pfarrhauses und berichtet, daß sicherlich die Stadt völlig zusammengeschossen würde, wenn wir sie nicht übergäben. Wir holen eine Fahnenstange für eine weiße Fahne..."
Bürgermeister Clement war inzwischen anderen Sinnes geworden. „Ich gab", so berichtete er, „an Josef Bindrum den Auftrag für den Abzug etwa noch vorhandener Soldaten zu sorgen, damit die Stadt gerettet werden könne. Gegen Mitternacht kam Bindrum in den Luftschutzkeller zurück und meldete, es sei kein Wehrmachtsangehöriger mehr angetroffen worden. Jetzt beauftragte ich die anwesenden Volkssturmführer Fragner und Brand die Waffen des Volkssturms einzusammeln und zum Rathaus zu bringen. Dies geschah ungefähr zwischen Mitternacht und 1 Uhr. Dann gab ich an Oswald Ackermann den Auftrag, in seiner Eigenschaft als Rotkreuzführer eine weiße Fahne zu beschaffen." (Diese weiße Fahne d. h. das Tuch befand sich noch um 1954 in Verwahrung des Bundesbahnangestellten F. Weiß, wie er mir mitteilte. Man sollte sie, wenn noch möglich, sicherstellen und einem künftigen Heimatmuseum einverleiben als sprechenden Zeugen aus Hammeiburgs schwerster Zeit.)
Wer sollte nun aber zu den Amerikanern hinaus? Nachdem verschiedene Vorgeschlagene es abgelehnt hatten, diesen für die Rettung der Stadt unbedingt nötigen Auftrag zu übernehmen, erklärte sich endlich der städt. Angestellte' Ludwig Kirchner bereit, zusammen mit zwei Gefangenen, einem Belgier und einem Australier, den Weg zu wagen. Kirchner war schon in den Vereinigten Staaten gewesen und sprach etwas englisch. Er berichtete: „Wir Hatten außer der weißen Fahne noch zwei rote Sturmlaternen und gingen so gegen zwei Uhr die Fuldaer Straße hinaus bis etwas über die Villa Herrlein. Hier standen amerikanische Panzer. Soldaten waren, soweit man bei Nacht sehen konnte, links und rechts ausgeschwärmt. Wir erklärten einem entgegenkommenden Offizier, die Stadt werde von niemand verteidigt und sei zur Übergabe bereit. Der Offizier kehrte um und anscheinend auf seinen Befehl trat ein Funkapparat in Tätigkeit und gab wohl eine Mitteilung an die feuerbereiten Batterien. Wir traten dann den Rückweg an und hinter uns setzten sich die Panzer in Bewegung. Bei der Gastwirtschaft Emmert am Bahnhof gab es einen kurzen Aufenthalt, da aus dem Haus im Gegensatz zu der sonst verdunkelten Stadt ein Lichtschein drang. Das Haus wurde ohne Ergebnis rasch durchsucht, dann ging es weiter bis zum Marktplatz". — Pfarrchronik: „Wir warten längere Zeit im Keller des Rathauses. Plötzlich hören wir Gerassel und dumpfes Dröhnen: die Amerikaner sind eingezogen. Es ist 2.15 Uhr." — Clement: „Gegen 2 Uhr kamen 4 bis 5 Panzer und stellten sich auf dem Marktplatz vor dem Schuhhaus Zoll und dem Gasthof zur Post gefechtsbereit auf. Keßler und ich hatten den Luftschutzkeller verlassen. Es war übrigens ganz dunkel. Bald erschien ein Captain, der deutsch sprach. Wir gaben uns als Bürgermeister zu erkennen und erklärten nochmals die Übergabe der Stadt. Deutsches Militär sei nicht mehr hier. Der Captain bot uns Zigaretten an, klopfte uns dabei auf die Schulter und erwähnte, 3 Batterien stünden feuerbereit und hätten um 3 Uhr die Beschießung begonnen". So war die Stadt buchstäblich in letzter Stunde vor dem Untergang gerettet worden. Der Captain begab sich jetzt mit Clement in dessen Dienstzimmer und hier fand, während 15 bis 20 Amerikaner das ganze Rathaus durchsuchten und vor dem Eingang zum Luftschutzkeller ein Posten aufgestellt wurde, in formloser Weise die kurze Übergabeverhandlung statt. Niedergeschrieben wurde hierüber nichts. Gegen 3 Uhr konnte Clement heimgehen, in seinem bisherigen Dienstzimmer wurde eine Funkstelle eingerichtet.
Die Amerikaner übernachteten teils in Häusern am Marktplatz, teils in ihren Schlafsäcken im Freien. Der Keller des Rathauses wurde erst bei Tagesanbruch um 6 Uhr geöffnet und der Ausgang freigegeben. Bürgermeister Clement wurde wieder geholt und mußte sich mit auf Quartiersuche begeben. Die Landwirtschaftsschule, das Amtsgericht, die Darlehenskasse, Postamt und Bahnhof sowie eine Anzahl von Privatgebäuden wurden besetzt und blieben es längere Zeit. Die Bewohner der beschlagnahmten Häuser mußten unter Zurücklassung ihrer Möbel die Wohnungen räumen. Im Laufe des Samstags (vor dem Weißen Sonntag) kehrten die meisten der geflüchteten Einwohner wieder in die Stadt zurück.
Der Verfasser dieser Erinnerungen weilte während des 6. April und der Nacht zum 7. nicht in Hammelburg, sondern hatte sich wie zahlreiche andere Einwohner mit seiner Familie nach Seeshof begeben. Während der Tag dort ziemlich ruhig verlief und bei fernem Gefechtslärm nur immer wieder kleine Gruppen versprengter deutscher Soldaten den Ort durchzogen, brachte die Nacht zum 7. April noch angstvolle Stunden. Die von Untererthal her den deutschen Versprengten nachfolgenden Amerikaner feuerten von Zeit zu Zeit Geschützsalven herüber. Der Luftschutzkeller, der diesen Namen nicht verdiente, da er großenteils ober der Erde lag und nur dünne Wände hatte, wurde bei Anbruch der Nacht Sammelort aller in Seeshof Anwesenden. Auch wir waren gegen 22 Uhr, durch einen in der Nähe unserer Unterkunft einschlagenden Blindgänger aufgeschreckt, dorthin geeilt. Kaum waren wir drinnen, so explodierte unmittelbar vor der Türe außen eine Granate in einer Gruppe verspäteter Flüchtlinge. 5 Todesopfer blieben liegen. Innen drängte sich alles angstvoll zusammen. So ging der Krieg über uns hinweg. Gegen 23 Uhr wurde laut an die Türe gepocht. Sie öffnete sich, amerikanische Soldaten blickten vorsichtig spähend herein. „Sind deutsche Soldaten hier?" Niemand antwortete. Der ganze Raum wurde durchsucht, nichts Verdächtiges gefunden. Ein Amerikaner, wiederum deutsch sprechend, beruhigte die Menge: „Ihr braucht euch nun nicht mehr zu fürchten, die schießen jetzt über euch hinweg". Diese Geste humaner Kriegsführung verfehlte ihre Wirkung nicht. Doch wurde verboten, den Raum vor Tagesanbruch zu verlassen. Alle Furcht war verschwunden. Manche versuchten zu schlafen, was sich jedoch als unmöglich erwies. Endlos dehnte sich die Nacht hin. Eine Anzahl der Amerikaner übernachtete im Ort ohne in den Häusern, wo mitgebrachtes zum Teil wertvolles Eigentum der Flüchtlinge offen herumlag, irgend etwas zu berühren. Sie zogen am Morgen ab. Gleichzeitig eilte alles aus der dumpfen Luft des Schutzraumes in den kalten Morgen hinaus. Vor der Türe lagen noch, wie das feindliche Geschoß sie hingestreckt hatte, die 5 Toten mit verkrampften Gliedern. Sie wurden im Laufe des Vormittags weggetragen. Mittags kehrten fast alle, auch wir, nach Hammelburg zurück, das ja inzwischen ebenfalls von den Amerikanern besetzt worden war.
Damit war für Hammelburg der Krieg beendet. Alles atmete auf, daß man noch so davon gekommen war. Immerhin war die Stadt schwer mitgenommen. Aus der oben bei den schriftlichen Quellen genannten Zusammenstellung von Springer ergibt sich folgendes:
Einwohnerzahl unmittelbar vor Kriegsbeginn (1. 9. 1939) |
3205 |
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Von den zum Wehrdienst Eingezogenen fielen auf den verschied. Kriegsschauplätzen oder starben an ihren Wunden |
110 |
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Vermißt blieben |
43 |
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Aus der einheimischen Zivilbevölkerung verloren das Leben, meist durch Fliegerbeschuß |
8 |
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Gesamtzahl der Verluste mithin |
161 |
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An Gebäuden entstanden teils durch Bomben mit nachfolgenden Bränden, teils durch Fliegerbeschuß oder Granattreffer Schäden an 14 Wohnhäusern, besonders in der Dalbergstraße und am Viehmarkt, ferner am Ostflügel des Roten Schlosses, am Turm der Pfarrkirche, am Rathausgiebel, am Krankenhaus und ehemaligen Gefängnis, auch an einzelnen Gräbern des Friedhofes. |
Für die nächste Zeit übernahmen die Amerikaner die volle Gewalt in allen wichtigeren Sachen. Als 1. Bürgermeister wurde Schlossermeister Adam Marterstock eingesetzt. Im Laufe des Frühjahres und Sommers begann das Leben allmählich wieder in normale Bahnen zurückzukehren. Am 22. April fand in der Pfarrkirche ein feierlicher Gottesdienst statt als Dankfest für die glückliche Errettung der Stadt.
Am 8. Mai endlich, nachdem die Führer der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatten, hielten die Amerikaner im Lager eine Siegesfeier ab. Von der Abenddämmerung an bis spät in die Nacht zogen Leuchtkugeln ihre feurige Bahn am sternenlosen Himmel.