Die karolingische Urkunde
Geschrieben hat das Diplom der von 774 bis 786 in der Reichskanzlei tätige Notar Wigbald in der Form, die sich in der Kanzlei Pippins entwickelt hatte6 . Am Anfang der Urkunde stand das Chrismon, die symbolische Anrufung Christi. Mit vergrößerten Buchstaben schrieb man die erste Zeile, die in der Königszeit nur noch selten, in der Kaiserzeit dagegen den Titel meist allein enthielt, ferner die Signumzeile, an die sich die Rekognition anschloß, die Gegenzeichnung durch den Leiter der Kanzlei oder seinen Vertreter (ad vicem = in Vertretung für, an Stelle von). Die Gegenzeichnung geschah immer eigenhändig. Das ihr vorangestellte Chrismon und das Rekognitionszeichen gestalteten die Urkundenschreiber individuell. In das Rekognitionszeichen wurden vielfach Tironische Noten eingefügt, zeit- und platzsparende Abkürzungen bei Schriftstücken. Der Name stammt von Markus Tullius Tiro, dem Freigelassenen, gelehrten Freund und Privatsekretär des römischen Redners, Politikers und Schriftstellers Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr). Tiro, der wohl der eigentliche Erfinder der Stenographie war7 , verkürzte Worte, Endungen, Silben und Buchstaben, um ein rasches Schreiben zu ermöglichen. In den Staatskanzleien der mittelalterlichen Herrscher wurde das Abkür¬zungssystem benutzt und weiterentwickelt.
Die Tironischen Noten im Rekognitionszeichen der Schenkungsurkunde Karls des Großen im Anschluß an die Monogrammzeile beziehen sich auf den Beurkundungsbefehl des Königs. Sie lauten: domno rege ordinante Uuihbaldus recognovi. Auf Befehl des Herrn Königs habe ich, Wigbald, gegengezeichnet.
Dem Hinweis „Signum“ folgte immer das Namensmonogramm des Herrschers. König Pippin, Karls Vater, benutzte als Handzeichen das Kreuz, das nach ihm durch andere Symbole abgelöst wurde.
Das Monogramm Karls enthielt nur die Raute, ein Querquadrat mit gewinkeltem Arm zwischen den beiden Oberbalken. Es stellte die Vokale seines Namens A O V (V = U) dar. An den geraden, von den Ecken ausgehenden Linien waren die Konsonanten K R L S des Namens Karolus angebracht8 .
Der König hat die Raute mit eigener Hand in das Mittelstück der Monogrammzeile seiner Urkunde für das Kloster Fulda eingetragen, mit der Raute seinen Herrscherwillen (auctoritas) vollzogen und der Urkunde Rechtskraft verliehen.
Der Begriff auctoritas erhielt in Karls Diplom eine Doppelbedeutung: Er bezeichnete zunächst den in der Herrschermacht begründeten Willen des Königs, der durch seine Anordnung (preceptio = praeceptio auctoritatis), die ein Befehl war, auf Pergament geschrieben werden mußte, das als Träger dieser Verfügung zum Instrument des Königswillens wurde. Das abstrakte Vorhaben Karls nahm so konkrete Gestalt an, wurde objektiviert und zur Urkunde umgewandelte auctoritas, die der König durch seine Zeichen (signacula = wirklicher Plural!) mit Rechtskraft ausstattete und siegeln ließ 9.
Der Haupttext des Diploms (= Urkunde) ist in der aus der Merowingerzeit stammenden Urkundenkursive geschrieben. Als Material verwendete man Pergament. Karls Schenkungsurkunde ist in den Maßen 23,5 x 50 cm ausgefertigt worden.
Das Wachssiegel neben dem Rekognitionszeichen ist durch das Pergament hindurchgedrückt 10.
Bemerkenswert wurde die Datenzeile unten am Ende der Urkunde gestaltet. Gegeben (data), ausgefertigt also, wurde sie septimo (sc. die) idus ianuarias. Das Tagesdatum ist angegeben in Anlehnung an die klassisch-römische Form. Cicero hätte zu seiner Zeit geschrieben septimum diem ante Idus Ianuarias, das heißt den 7. Tag vor den januarischen Iden, am 7. Tag vor den Iden des Januar. Ein Tagesdatum berechneten die Römer im Vergleich zur heutigen Praxis umständlich, aber im Alltag wurden sie durch den ständigen Umgang im Geschäfts- und Briefverkehr schnell mit den Berechnungsmethoden vertraut. Das System war überschaubar; denn drei Tage eines jeden Monats hatten eigene Namen:
Kalendae, die Kalenden der 1. Tag des Monats, der Monatserste
Nonae, die Nonen der 5. Tag des Monats (aber der 7. im März, Mai, Juli und Oktober)
Idus, die Iden der 13. Tag des Monats (aber der 15. im März, Mai, Juli und Oktober)
Die übrigen Tage eines Monats wurden bestimmt durch Rückwärtszählung von den Kalenden, Nonen und Iden, wobei Anfangs- und Endtermin mitgerechnet wurden.
Im Hinblick auf die Urkunde bedeutet das: Von den Iden des Januar, dem 13. Januar also, ist zurückzuzählen um 7 Tage, beginnend mit dem 13. Januar, den Endtag in die Rechnung einbezogen. Als Monatsdatum ergibt sich der 7. Januar. Dieses Kalendersystem beherrschten die Urkundenschreiber in der königlichen Kanzlei.
Karls Regierungsjahr wurde angegeben mit den Worten anno nono et tertio regni nostri, im 9. und 3. Jahr unserer Königsherrschaft. Auszugehen ist bei der Berechnung von Karls Regierungsbeginn. Er wurde am 9. Oktober 768 zu Noyon auf den Königsthron der Franken erhoben11 . Anno nono, im 9. Jahr; bezeichnete die Zeit seiner fränkischen Königsherrschaft westlich und östlich des Rheins, über West- und Ostfranken, anno tertio, im 3. Jahr, meinte die italienisch-langobardische Königswürde. Der Herrschertitel Karls war nach der Eroberung12 des Langobardenreiches 774 erweitert worden zu gratia dei rex Francorum et Langobardorum. Darauf folgte allmählich das Zusatzprädikat acpatricius Romanorum, und Schutzherr der Römer.
Zu den fränkischen Regierungsjahren (768 + 9 = 777) wurden die italienisch- langobardischen Königsjahre (774 + 3 = 777) hinzugenommen und mit diesen in Karls Königszeit gemeinsam als anni regni nostri, die Jahre unserer Königsherrschaft bezeichnet13 .
Das Datum der Ausfertigung der Urkunde war der 7. Januar 777, der Ort die Königspfalz Herstal bei Lüttich, wo König Karl das Weihnachtsfest 776 gefeiert hat14 .